Mein Kind will nicht an die frische Luft.
Situation: Es ist 19:30 Uhr und ich will raus an die frische Luft. Ich habe mir vorgestellt, dass wir einen schönen Familienausflug machen. So richtig harmonisch. Mit wertvollen Elterngesprächen, lachenden und vorausrennenden Kindern. Wie im Film eben… Ich stehe mit angezogenen Schuhen im Flur und rufe nach meinen Kindern… die mich gekonnt ignorieren. Ich rufe wieder. Und wieder. Immer lauter werde ich. Irgendwann antworten sie. Sie wollen nicht spazieren gehen. Sie wollen lieber drin bleiben und Tablet schauen. Ich will aber so sehr raus und finde außerdem, dass sie auch dringend mal raus sollten, dass ich darauf bestehe. Wir triggern uns gegenseitig und die Situation eskaliert komplett. Die ganze Zeit macht mich der folgende Gedanke fast wahnsinnig: Mein Kind will nicht an die frische Luft
1) „Mein Kind will nicht an die frische Luft.“ Ist das wahr? – Ja.
2) „Mein Kind will nicht an die frische Luft.“ Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist? – Ja verdammt. Gerade erst hab ich wieder gelesen, dass es für hochsensible Kinder wichtig ist, dass sie viel in der Natur sind.
3) Wie reagierst du, was passiert, wenn du diesen Gedanken glaubst? Mein Kind will nicht an die frische Luft. – Ich hab mit aller Macht versucht, mein Kind vor die Tür zu bringen. Erst liebevoll. Dann mit locken. Dann mit erpressen, dann mit drohen. Ich hab ihm sein Tablet weggenommen. Zum Schluss habe ich sogar laut geschimpft. Und dann hab ich sie an den Papa übergeben weil ich nicht mehr konnte. “ /> Ich war eine richtig blöde Mama. Ich fühl mich total beschissen. Wie die schlechteste Mutter auf der Welt. Schaffe es nicht mal, dass mein Kind eine Stunde am Tag draußen verbringt. Offensichtlich sind meine Angebote nicht interessant genug. Offensichtlich mache ich irgendetwas falsch. All das denke ich dann. Ich bin so mega wütend. Auf mich. Weil ich versagt habe. Auf meine Kinder, weil sie nicht machen, was doch gut für sie ist. Auf ihren Papa, weil der auch nie freiwillig raus will. Und in meinen Augen ein schlechtes Vorbild ist. Ich will laut schreien, auf irgendetwas einschlagen. Ich schmeiße eine Plastikschüssel in die Spüle um die übermäßige Energie irgendwie loszuwerden. Ich kann nicht mehr tief atmen. Atme nur noch flach und verkrampft. Mich jetzt hin zu setzten und zu worken erfordert meine ganze Kraft. Ich hab mir meditative Musik angemacht und versuche krampfhaft meinen Atem zu beruhigen. Schier unmöglich.
Da erinnere ich mich an meine Work-Vertiefungs-Übung. Ich beschließe mitten drin zu unterbrechen und erstmal die Vertiefungs-Übung zu machen. Offensichtlich steckt in diesem Satz viel drin. Bei dieser Übung geht es vor allem darum, einmal ganz ehrlich und offen zu schauen, was alles hoch kommt.
Mein Kind will nicht an die frische Luft. Und das bedeutet? Das bedeutet, dass …
– Mein Kind nicht genug frische Luft bekommt.
– Ich nicht an die frische Luft bekomme, weil ich sie nicht allein daheim lassen kann.
– Mein Kind nicht genug Bewegung bekommt.
– Ich nicht genug Bewegung bekomme.
– Ich keine gute Mutter bin.
– Ich meinem Kind nicht die richtigen Werte beigebracht habe.
– Mein Kind das Tablet wichtiger ist als alles andere.
– Mein Kind irgendwann ein Keller-Nerd werden wird.
– Das meine Mutter mir wieder sagen wird, sie hat es ja gleich gesagt. Das Kind hätte nie ein Tablet bekommen dürfen.
– Das meine Mutter Recht bekommt.
– Das mein Kind irgendwann übergewichtig und faul sein wird.
– Das mein Kind ungesund lebt.
– Das mein Kind die Natur nicht zu schätzen weiß.
Puh. Das hat gut getan, dass alles mal raus zu lassen. Bei mindestens der Hälfte der Sätze hat meine innere Kritikerin laut gebrüllt: „was ist denn das für ein Quatsch?! DAS SCHREIBST DU AUF GAR KEINEN FALL AUF! Was sollen denn die Leute denken?!“ Ich habe ihr freundlich für die Mahnung gedankt und es trotzdem aufgeschrieben. Schließlich habe ich es ja gedacht. Und Ehrlichkeit ist mir wichtig.
Jeden einzelnen Satz davon kann und werde ich übrigens ausführlich worken. Aber jetzt mache ich Teil 2 der Übung. Ich drehe direkt alles ins Gegenteil um. Und dann schaue ich, ob ich Beispiele dafür finde, dass dieser Satz so auch wahr ist.
Mein Kind will nicht an die frische Luft. Und das bedeutet …
– NICHT, dass mein Kind nicht genug frische Luft bekommt.
– NICHT, dass ich nicht an die frische Luft bekomme, weil ich sie nicht allein daheim lassen kann.
– NICHT, dass mein Kind nicht genug Bewegung bekommt.
– NICHT, dass ich nicht genug Bewegung bekomme.
– NICHT, dass ich keine gute Mutter bin.
– NICHT, dass ich meinem Kind nicht die richtigen Werte beigebracht habe.
– NICHT, dass mein Kind das Tablet wichtiger ist als alles andere.
– NICHT, dass mein Kind irgendwann ein Keller-Nerd werden wird.
Natürlich stimmt das alles. Sogar viel mehr als der Teil vorher. Ich atme auf. Mit jedem Satz konnte ich wieder tiefer atmen. Mein Puls hat sich beruhigt. Ich kann wieder klarer denken. Der rote Schleier ist weg. Jetzt kann ich meinen Ursprungssatz weiter worken.
Mein Kind will nicht an die frische Luft. In wessen Angelegenheit befindest du dich, wenn du den Gedanken glaubst? Eindeutig in der meines Kindes. Ich kann das ja eigentlich gar nicht beurteilen was mein Kind braucht. Ich glaube ja nur zu wissen, was es braucht. Ich habe beigebracht bekommen, dass ich als Mutter die Verantwortung für mein Kind trage. Und die muss ich doch ernst nehmen. Bloß… wie weit geht die? Soweit, dass ich mein Kind zwinge, dass Haus zu verlassen? Sicher nicht. Wie fühlt es sich an, in der Angelegenheit deines Kindes zu sein? Blöd. Total aussichtslos. Und so übergriffig. Als wäre ich ein Diktator. Es fühlt sich scheußlich an. Wie gehst du mit deinem Kind um, wenn du diesen Gedanken glaubst? Richtig scheiße. So wie ich nie mit ihm umgehen wollte. Ich werde zur schlimmsten Version von mir. Dabei wollte ich so doch nie sein. Wozu bist du nicht in der Lage, wenn du den Gedanken glaubst? Liebevoll zu sein. Geduldig zu sein. Die Kinder zu Hause spielen zu lassen und alleine rauszugehen. Meinen Mann bei den Kindern zu lassen und mir einfach draußen eine schöne Zeit zu machen. Nein, ich will unbedingt, dass wir zu viert rausgehen. Ruhig zu atmen und eine andere Lösung zu finden. Ich bin total blockiert. Wie der Stier, der das rote Tuch sieht. Ich bin nicht in der Lage zu erkennen, dass die Kinder gerade etwas anderes brauchten. Sie sind nämlich kurz nach dem Streit völlig erschöpft eingeschlafen. Ich bin nicht in der Lage nachzugeben. Ich bin nicht in der Lage meine Gefühle zu kontrollieren. Ich bin nicht in der Lage die liebevolle & unerzogene Mutter zu sein, die ich eigentlich sein will. Was will dieser Gedanken Gutes für dich? Mit dem Gedanken kann ich die Schuld bei meinem Kind suchen. Ich wollte ja raus. Ich will mich ja bewegen. Mein Kind ist schuld, dass das wieder nicht geklappt hat. Und ich versuche ja die Vorzeige-Mama zu sein, deren Kinder ständig draußen in der Natur tolle Vorzeige-Abenteuer erleben. Aber meine Kinder ziehen da halt einfach nicht mit.
4) Einmal kurz schütteln, tief ein- und ausatmen, dann geht es weiter. Mal angenommen, der Gedanke „Mein Kind will nicht an die frische Luft.“ und die ganze Geschichte dahinter ist jetzt für einen Moment gelöscht. Wer oder was wärst / bist du – in der gleichen Situation – ohne den Gedanken? Vor meinem inneren Auge schaue ich mir die Situation an wie auf einem Foto. Einem Stummfilm, der in Zeitlupe abläuft. Ich sehe zwei Kinder, die total müde aussehen. Zwei Kinder, die lauthals protestieren. Ohne den Gedanken kann ich wieder fühlen. Ich kann spüren was sie eigentlich brauchen. Ich höre meine Intuition, die mir sagt, „der Zug ist für heute abgefahren. Morgen wieder.“ Ich kann mein eigenes Bedürfnis nach gemeinsamer Zeit fühlen. Nach Gemeinschaft. Und nach frischer Luft. Und nach Ruhe. Dann kann ich reinfühlen, was mir gerade wichtiger ist. Und eine Entscheidung treffen. Warum habe ich eigentlich nicht einfach die Kinder ins Bett gebracht und bin dann laufen gegangen?
Umkehrung 1: Ich will nicht an die frische Luft.
Klingt erstmal grotesk. Ich will ja an die frische Luft. Daher ja das ganze Theater. Wie könnte dieser Satz trotzdem wahr sein? 1. Ich will nicht an die frische Luft mit zwei kleinen, schreienden Kindern im Schlepptau. Das ist weder beruhigend noch befriedigend und schon gar nicht erfüllend. 2. Ich will auch nicht um jeden Preis an die frische Luft. Der Preis heute war definitiv schon zu hoch. Und dann hab ich mein Ziel ja noch nicht mal erreicht. Solche nicht-konstruktiven und nicht-wertschätzenden Konflikte will ich mit meinen Kindern definitiv nicht. 3. Eigentlich hab ich den ganzen Nachmittag auf dem Balkon verbracht. Da war es mir noch nicht wichtig mit den Kindern raus zu gehen. Was kommt dieser Wunsch auch erst so spät auf?
4. Ich hätte mich auch einfach nochmal auf den Balkon, auf die Terrasse oder in den Garten gehen können. Was ich eigentlich wollte, war mich bewegen. Einen Spaziergang machen. Besser noch Sport machen. Gut, dass ich das jetzt erkannt habe.
Umkehrung 2: Mein Kind will an die frische Luft.
1. Mein Kind hätte vielleicht mein Angebot angenommen, auf den Balkon, die Terrasse oder in den Garten zu gehen. Wenn ich es denn ausgesprochen hätte. Ich hab aber gesagt, dass wir jetzt einen Spaziergang machen und das wollten die Kinder nicht. Das sie nicht an die frische Luft wollen haben sie dagegen gar nicht gesagt. Vielleicht wären sie gerne mit mir auf den Balkon gegangen und hätten in der Hollywoodschaukel zusammen gekuschelt. 2. Vielleicht hätte mein Kind auch mein Angebot angenommen sich in den Fahrrad-Anhänger zu setzen und so eine Radtour mit mir zu machen. Oh Mist. Da fällt mir ein, dass hatte ich ihnen mittags versprochen. Das wir mit dem Fahrrad zum Spielplatz fahren. Und dann habe ich mich dagegen entschieden weil ich befürchtet habe, dass dort am Feiertag zu viel los ist. Das mache ich schnellstmöglich wieder gut. 3. Mein Kind war den halben Tag mit mir auf dem Balkon und hat dort im Planschbecken gespielt. Da wollte es definitiv an die frische Luft. Und gestern erst waren sie mit Papa und Opa über zwei Stunden im Wald. Letzte Woche im Ostsee-Urlaub waren wir total viel am Strand. Und morgen gehen sie mit der Oma in den Luisenpark. Die Gefahr besteht also überhaupt nicht, dass meine Kinder nur daheim sitzen. Warum zur Hölle mache ich mir eigentlich solche Gedanken? Zum Glück, muss ich ja nicht alles glauben was ich denke.
Mein Kind ist übrigens nochmal aufgewacht und ich habe mich entschuldigt und mit ihm gekuschelt, bis er wieder eingeschlafen ist. Und ich gehe jetzt eine Runde joggen. Mein Bewegungs-Bedürfnis ist nämlich noch nicht gestillt. Und morgen will ich wieder die liebevolle Mama sein, die ich sein kann und besser auf unsere Bedürfnisse achten.
Wie sind deine Erfahrungen? Hast du Mit-Worken können? Gibt es etwas, dass dich gerade besonders arg nervt? Ein Thema, bei dem dir ein Blog-Artikel helfen würde? Schreib mir gerne oder hinterlasse mir einen Kommentar. Ich freue mich über jedes Feedback.
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