Ich will nicht, dass er seinen Ärger an unserem Kind auslässt. 

 

Heute zeige ich euch mal kein eigenes Work-Bespiel, sondern dass einer Kundin. Natürlich mit ihrer Genehmigung und ganz ohne Namen. Also anonym. Und natürlich könnte das genauso gut ein Beispiel von mir sein. Wahrscheinlich auch von vielen von euch. 😉 Für den besseren Lesefluss und weil es für mich einfacher zu schreiben ist, wechsle ich für die tatsächliche Work in die Ich-Perspektive. Ich bin sehr gespannt, was ihr über diesen Artikel denkt. Schreibt mir gerne einen Kommentar dazu.

Die Situation: Eine alltägliche Familiensituation. Die Familie sitzt am Tisch. Das Kind isst nicht „ordentlich“ und Teile des Essens fallen vom Tisch auf den Boden. Während die Mutter noch gelassen bleibt, wird der Vater immer gereizter. Und schlussendlich fährt er das Kind richtig an. „Kannst du nicht anständiger essen? Pass doch endlich mal auf!“ Und da ist er wieder. Laut und deutlich schallt der Gedanke durch den Kopf: „Ich will, dass er seinen Ärger nicht an unserem Kind auslässt.“ So oft war er schon da und so oft war er der Beginn eines Streits. Höchste Zeit, sich diesen Gedanken mithilfe von The Work von Byron Katie mal genauer anzuschauen:

Ich will, dass er seinen Ärger nicht an unserem Kind auslässt. Ist das wahr? – Ich schließe die Augen, atme tief ein und aus.. EINDEUTIG JA!

Ich will, dass er seinen Ärger nicht an unserem Kind auslässt. Kann ich mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist? – Definitiv Ja. Ich versuche mehr in mich reinzuhören, ganz genau zu spüren. Das Ja bleibt. Deutlich und eindeutig. Ja.

Wie reagiere ich, was passiert, wenn ich diesen Gedanken glaube? Ich will, dass er seinen Ärger nicht an unserem Kind auslässt. Puh. Ich werde sowas von genervt! Wie oft habe ich ihm das schon gesagt?! Richtig wütend werde ich. In meinem Kopf feuert eine Salve nach der nächsten ab und ich versuche das irgendwie in gewaltfreie Kommunikation umzuwandeln, um es wertschätzend nach außen zu übertragen. Es scheitert kläglich. Muss Rosenberg solche Situationen eigentlich auch erleben? Schafft er das?…. Okay, falsche Abzweigung – zurück zur Work. Wenn ich diesen Gedanken glaube, dann wird mir richtig schlecht. Ich muss doch mein Kind schützen! So behandelt man sein Kind nicht! Was, wenn mein Kind davon einen Schaden davon trägt? Sein Leben lang traumatisiert ist? Ich bin kurz davor dass ich mit meinem Kind mitweine. Ich will zu ihm hingehen, mein Kind in den Arm nehmen und dafür sorgen, dass er nie wieder so behandelt wird. Stattdessen sitze ich wie versteinert auf meinem Stuhl. Funkle meinen Partner bitterböse an und bin nicht in der Lage die Situation zu entschärfen. Die Verzweiflung wird immer stärker, die Worte die in meinem Kopf hallen und da ich sie nicht aussprechen will, schnüren sie mir die Kehle zu. Ich spüre einen dicken Kloß im Hals und einen unendlich großen Druck auf der Brust. Wie behandle ich meinen Partner? Ich ignoriere seine Gefühle, schlimmer noch, sie sind mir fast egal in dem Moment. Ich bin genervt und sauer. Ich will, dass er es so macht wie ich. Ich will, dass er seine Fehler einsieht. Ich will, dass er sich mehr mit Gewaltfreier Kommunikation nach Rosenberg beschäftigt und ich will, dass er sich sofort entschuldigt. Ich behandle ihn wie einen Täter. Wie behandle ich mich selbst? Hm.. das ist schwierig… wie die Retterin meines Kindes. Als wäre ich die einzige hier, die weiß wie es läuft. Als hätte ich es persönlich bei Jesper Juul gelernt. Welche Bilder aus der Vergangenheit tauchen auf? Sofort sehe ich mich selbst als kleines Kind am Tisch sitzen. Höre wie mein Vater mich anschreit und beschimpft. Augenblicklich laufen mir die Tränen über die Wange. Tränen der Wut und der Verzweiflung. Ich hab mich so angestrengt und er hat es nicht gesehen. Niemand hat mich vor ihm beschützt. Mir wird klar, warum ich auf die Szene mit meinem Partner so heftig reagiere. Ich bin in dem Moment quasi mit meinem Kind verschmolzen. Ich meine zu wissen, was mein Kind fühlt. Dabei sind es meine Gefühle aus meiner Vergangenheit. Wie ist mein ganzes Leben damit? Furchtbar anstrengend. Traurig und ich bin ständig so unfassbar wütend. Wozu bin ich nicht in der Lage, wenn ich diesen Gedanken glaube? Ich bin nicht in der Lage mein inneres Kind von meinem eigenen Kind zu unterscheiden. Ich kann die Gefühle nicht mehr trennen und glaube ganz genau zu wissen, was mein Kind jetzt fühlen MUSS. Ich kann meinen Partner nicht mehr sehen. Kann seine Wünsche und Bedürfnisse nicht sehen, geschweige denn sie ernst nehmen. Ich bin nicht in der Lage, zu hinterfragen, ob mein Kind davon einen Schaden davontragen wird. Ich bin nicht in der Lage aufzustehen und die Situation zu deeskalieren.

 

Einmal kurz schütteln, dann geht es weiter. Mal angenommen, der Gedanke und die ganze Geschichte dahinter ist jetzt für einen Moment gelöscht. Wer oder was wäre/bin ich ohne den Gedanken in der gleichen Situation? – Ohne den Gedanken.. ich betrachte die Situation wie auf einem Foto. Ohne den Gedanken sehe ich eine verzweifelte Mutter, einen verzweifelten, müden Vater, der mit den Nerven ziemlich durch zu sein scheint und ein weinendes Kind. Achja, und Essen auf dem Boden. Hm.. Ohne den Gedanken kann ich wieder die Bedürfnisse von meinem Partner sehen. Das tut gut. Das schafft sofort wieder eine Verbindung. Das wünsche ich mir ja auch von ihm. Das er meine Not sehen kann. Ohne den Gedanken, erinnere ich mich sofort wieder daran, dass auch er unser Kind liebt. Dass er niemals etwas aus böser Absicht tun würde, dass unserem Kind schadet. Ohne diese Geschichte kann ich mein Kind wahrnehmen. Ich kann sehen, dass es sich erschrocken hat. Und ich kann spüren, was es braucht, um die Situation zu deeskalieren. Was ICH jetzt tun kann. Ich würde meinem Mann versichern, dass ich das gleich aufräume und er das nicht machen braucht, weil ich sehe wie müde er ist. Ich würde mein Kind liebevoll beruhigen und ihm erklären, warum sich Papa gerade so geärgert hat. Ich würde ihm nochmal zeigen, wie es so essen kann, dass nichts auf den Boden fällt und beiden sagen, dass das eine Lernphase ist die bald vorbei ist. Und das ganze ruhig, wertschätzend und liebevoll.

 

Umkehrung 1: Ich will, dass ich meinen Ärger nicht an unserem Kind auslasse. Hm… hab ich ja nicht. Ob ich da ein Beispiel für finden kann glaube ich erstmal nicht.. Aber ich überlege mal.

1. Ersetzen wir mal Ärger durch Emotion, dann stimmt es. Ich habe ja mein inneres Kind auf mein Kind übertragen. Ich meine zu wissen, wie mein Kind sich fühlt und bin in meinen eigenen Emotionen gefangen. Ich lasse meine Emotionen an meinem Kind aus, weil ich nicht in der Lage bin liebevoll und ruhig zu reagieren.

2. Weite ich die Situation aus, dann finde ich natürlich Beispiele. Auch ich bin schon mal laut geworden. Hab dumme Sachen gesagt, die ich hinterher bitterlich bereut habe. Und ich hasse es, wenn das passiert. War erst neulich wieder, als er seinen Becher hat fallen lassen und ich wischen musste.. Aber ich will nicht so sein. Die Aussage stimmt also definitiv. Ich will das nicht.

3. Das dritte Beispiel ist echt schwer.. Ich probiere es mit einem Trick: Ich will, dass ich meinen Ärger nicht an meinem Kind auslasse, WEIL, … ich eine große Verfechterin von „Unerzogen“, „BeziehungstattErziehung“, Jesper Juul, GfK von Rosenberg und und und bin. Ich glaube fest daran, dass wir liebevoll zu unseren Kindern sein sollten um ihnen nicht zu schaden. Und ich will so gerne richtig gut darin sein. Ich will nicht, dass mein Kind so an die Kindheit zurückdenkt wie ich. Aber ich spüre, dass der Satz nicht der ist, um den es eigentlich geht. Ich probiere also etwas aus.

Umkehrung 2: Ich will, dass ich meinen Ärger nicht an meinem Partner auslasse. Wie kann das in dieser Situation auch wahr sein?

1. Ich will, nicht so wütend und sauer auf ihn sein. Ich will, dass auch mein Partner weiß, dass er okay ist, wie er ist. Dass er weiß, er wird geliebt auch wenn er Fehler macht.

2. Ich will meinem Kind ein gutes Vorbild sein. Ich will meinem Kind vorleben, wie ich mit jemandem (meinem Partner) nicht einer Meinung sein und trotzdem wertschätzend und liebevoll kommunizieren kann. Es ist wichtig für mich, dass ich meine Grenzen wahre und mitteile, aber eben wertschätzend.

3. Ich will, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen und dass er nicht zu einem weiteren Kind von mir wird. Dafür muss ich ihn auch wie einen Erwachsenen auf Augenhöhe behandeln. Und dazu gehören auch meine Gedanken, also dass, was ich über ihn denke.

Umkehrung 3: Ich will, dass ich meinen Ärger nicht an meinem Vater auslasse. Diese Umkehrung mache ich nur, weil ich die Verbindung zur Kindheit erkannt habe und sie gleich mitauflösen mag. Strenggenommen gehört sie hier nicht rein und ist keine „richtige“ Umkehrung. Trotzdem: Wie kann das auch wahr sein?

1. Ich weiß schon lange, dass mein Vater sein Bestes gegeben hat, auch wenn sich das für mich nicht immer gut angefühlt hat.

2. Ich weiß auch, dass er selbst eine noch schlimmere Kindheit hatte und das er schon sehr viel davon nicht an mich weitergegeben hat. Es wird also wirklich mal Zeit, dass ich ihm sein Fehlverhalten vergebe.

3. Es entspricht schlicht nicht meiner Natur, meinen Ärger an ihm auszulassen und geholfen ist mir damit auch nicht. Ich will das nicht, weil es unserer Beziehung wieder schaden würde. Wenn man Wut mit Wut bekämpft, kommt man nie zur Liebe. Und ich will die Verbindung stärken.

Umkehrung 4: Ich will, dass er seinen Ärger an unserem Kind auslässt. Hui… starker Tobak. Wie kann das in dieser Situation auch wahr sein?

1. Hm.. naja… auch seine Gefühle dürfen da sein. Auch er darf authentisch sein. Und ich will lieber, dass er seinen Unmut gleich äußert, als dass er ihn anstaut und dann irgendwann explodiert und es dann richtig schlimm ist.

2. Damit ich seine Not sehen und wahrnehmen kann. Damit ich sehe, hey, irgendwas stimmt hier nicht. Er ist doch sonst so ein liebevoller Vater.

3. Damit ich lerne einzugreifen und liebevoll, wertschätzend aber bestimmt für mein Kind einzustehen.

4. Damit mein Kind lernen kann, dass dieses Verhalten nicht in Ordnung ist. Wenn man nie spürt was Ärger ist, kann man ja auch nicht verstehen, warum das für andere so verletzend ist.

5. Damit ich lernen kann bei mir zu bleiben, mich rauszuhalten und darauf zu vertrauen, dass die beiden das untereinander klären. Schließlich ist meinem Partner unser Kind auch super wichtig. Und mein Kind ist ziemlich gut darin klar zu kommunizieren, was es will – und was nicht.

Ich nehme also mit: Ich vertraue meinem Partner wieder mehr. Ich sehe nicht mehr gleich den Weltuntergang wenn er mal laut wird. Und ich mache mir wieder bewusst, an welchen Stellen er ein echt toller Vater ist. Ich will nämlich meinen Fokus nicht nur auf die Probleme legen, sondern vor allem Dingen darauf, wo es gerade gut läuft. Und vielleicht spreche ich nochmal mit meinem Vater..

Wie sind deine Erfahrungen? Schreib mir gerne oder hinterlasse mir einen Kommentar.

Herzensgrüße ♥
Deine Nicole

 

Bild von Nadine Doerlé auf Pixabay.