Er sollte das doch endlich verstehen.

 

Situation: Ich bin fix und fertig. Drei Tage online Seminar hintereinander und ein weiterer steht mir noch bevor. Meine ganze Woche – eigentlich sogar schon das letzte halbe Jahr – war wirklich knochenhart und ich gehe gerade wirklich auf dem Zahnfleisch. Als das Seminar fertig ist, gehe ich runter um noch Zeit mit den Kindern zu verbringen bevor sie ins Bett gehen. Statt freudig begrüßen die mich aber mega quengelig. „Mamaaaaaa ich hab soooooo Hunger. Ich will einen Mini-Muffin.“ Mein Kind weint dabei sogar schon. Ich schaue fragend meinen Mann an, der gerade dabei ist etwas aufzuräumen – „Ich mache ihm ja gleich ein Sandwich…“ sagt er und räumt in seiner für ihn so typischen Ruhe weiter auf. Mein Kind fängt an zu weinen, richtig verzweifelt und so als stünde er kurz vorm Hungertod. „Aber ich will jetzt sofort einen Muffin.“ kann ich gerade noch verstehen, der Rest geht in seinem Weinen unter. Von jetzt auf gleich bin ich komplett getriggert und höre mich nur noch meinen Mann richtig laut anmotzen „Kannst du das nicht endlich mal verstehen?!?“. BÄM! Was ist denn da passiert? Achja, ein sehr alter, bekannter Gedanke: Er sollte das doch endlich verstehen!

1) „Er sollte das doch endlich verstehen!“ Ist das wahr? – Ja.

2) „Er sollte das doch endlich verstehen!“ Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist? – Ja. (JA VERDAMMT!)

3) Wie reagierst du, was passiert, wenn du diesen Gedanken glaubst? Er sollte das doch endlich verstehen! – Ich bin so dermaßen wütend. Wie ein ausbrodelnder Vulkan komme ich mir vor. Ich sehe rot wie ein Stier im Ring (ja ich weiß, man weiß mittlerweile, dass Stiere gar kein rot sehen können – aber du verstehst schon was ich meine). Ich bin weit über meine Komfortzone hinausgeschossen und kann nicht mehr denken bevor ich rede oder handle. Meine Kinder und ich sind alle drei hochsensibel. Tausend Mal schon hab ich versucht ihm zu erklären, wie das ist, wenn man hochsensibel ist und Hunger hat. Wenn ein Grundbedürfnis nicht erfüllt wird. Wie das ist, wenn man an nichts anderes mehr denken kann als an Essen. Und wenn für alles andere jegliche Energie fehlt. Wie man in eine Art Steinzeit-Mensch-Modus zurückfällt. Unfähig Entscheidungen zu treffen. Unfähig noch normal zu kommunizieren. Unfähig noch länger zu warten. Und wenn man ein kleines Kind ist und auch noch darauf angewiesen ist, dass andere einem dieses Grundbedürfnis erfüllen. Keine Chance. 1000 Mal bin ich gescheitert. Es ist, als würde ich versuchen, einem Blinden zu erklären wie man Farben sieht. Welche Gefühle tauchen auf, wenn du den Gedanken glaubst? Wut! Ich befinde mich im totalen Gefühlschaos und bin nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, ob das noch meine Gefühle sind oder die meiner Kinder – oder seine. Er ist nämlich jetzt auch wütend – auf mich. Ich bin frustriert, dass ich nicht in der Lage bin etwas zu erklären, dass für mich – für uns – so essentiell ist. In wessen Angelegenheit befindest du dich, wenn du den Gedanken glaubst? Grmpf.. in der meines Mannes… schon klar. Aber ich muss doch meine Kinder schützen. Oder? Vor meinem Mann? Mir wird klar, wie absurd das klingt. Wie fühlt es sich an, in der Angelegenheit deines Mannes zu sein? So aussichtslos. Egal wie sehr ich ihn anders haben will als er ist, es ist total aussichtslos. Und eigentlich sollte ich mich gerade um meine Angelegenheit kümmern. Was zur Hölle hat mich da gerade so getriggert? Wie gehst du mit deinem Mann um, wenn du diesen Gedanken glaubst? Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Als stünden wir auf unterschiedlichen Seiten. Pro vs. Contra Kind. Ständig stehe ich zwischen ihm und den Kindern. Ich übersetze, vermittel, schlichte Streit, schaffe Missverständnisse aus der Welt. Ich will aber gar nicht zwischen ihnen stehen. Ich will, dass sie zum Papa eine genauso enge Bindung haben wie zu mir. Das wird so natürlich schwierig. Welche Bilder aus der Vergangenheit oder der Zukunft tauchen auf, wenn du den Gedanken glaubst? Zukunft: Ich sehe uns beide, wie wir immer weiter auseinander triften. Und immer mehr zu gegnerischen Parteien werden. Wie ich mich immer schlecht fühle, wenn ich nicht dabei bin, weil ich Angst habe, dass die Kinder in der Zeit nicht ihren Bedürfnissen gerecht behandelt werden. Vergangenheit: Ich erinnere mich an meine eigene Kindheit: „Stell dich nicht so an.“, „Jetzt hab halt mal etwas Geduld.“, „Du wirst jawohl mal ein paar Minuten warten können. Das ist jawohl nicht zu viel verlangt.“ „Jetzt sei mal nicht so sensibel.“, „Oh man, jetzt weint sie schon wieder.“… all das sind Sätze, die ich massenhaft gehört habe und die mir immer noch im Ohr nachklingen. Und es war zu viel verlangt. Und ich konnte meine Bedürfnisse nicht ändern. Es hat jedoch dazu geführt, dass ich immer mehr und mehr geglaubt habe, dass ich falsch bin. Nicht richtig, so wie ich bin. Und das ich anders sein sollte. Also habe ich versucht anders zu sein. Ich habe versucht, mehr so zu sein, wie die anderen mich haben wollten. Habe mich angepasst, mich von Grund auf verbogen. Bis ich selbst überhaupt nicht mehr wusste, wer und wie ich eigentlich bin – und unheimlich gelitten habe. Und das will ich für meine Kinder auf gar keinen Fall. Ich will nicht, dass sie das auch durchmachen müssen. Genau davor will ich sie schützen. Ich will sie davor bewahren, dass sie glauben, so wie sie sind, sind sie falsch. Und das sie denken, sie sollten anders sein. Wozu bist du nicht in der Lage, wenn du den Gedanken glaubst? Liebevoll zu sein. Ruhig und entspannt zu bleiben. Friedlich mit meinem Mann zu sprechen. Meinem Kind Sicherheit zu vermitteln. Mist. Was will dieser Gedanken Gutes für dich? Dieser Gedanke lässt all die alten Emotionen auftauchen. Die tiefe Verzweiflung. Die Wut. Die Wut und die Traurigkeit darüber, dass ich vermeintlich „falsch“ war. Dass ich mich immer gefühlt habe wie ein Alien auf einem fremden Planeten. Und endlich dürfen diese Emotionen raus. Endlich kann ich all das sagen, was ich damals schon so laut schreien wollte „WIESO VERSTEHT MICH DENN HIER KEINER?!“. Ich nehme mir einen Moment und lasse die Emotionen zu. Es tut so weh. Ich glaube fast, dass ich den Schmerz nicht aushalten kann. Es sind richtig alte Wellen, die da über mich drüber rollen und mir rollen die Tränen über die Wangen. Aber am Ende wird der Schmerz weniger. Mein Atem wieder ruhiger und ich habe es überstanden.

4) Mal angenommen, der Gedanke „Er sollte das doch endlich verstehen!“ und die ganze Geschichte dahinter ist jetzt für einen Moment gelöscht. Wer oder was wärst / bist du – in der gleichen Situation ohne den Gedanken? Ohne den Gedanken höre ich, dass mein Kind Hunger hat. Ich nehme seine Emotionen wahr. Kann sie von meinen abgrenzen. Schaue meinen Mann neugierig an um herauszufinden, wie er dazu steht. Und dann gehe mit meinem Kind in die Küche um das Problem zu lösen. Fertig. Ende der Geschichte. Kein Trigger, Keine Wut. Ich kann weiter ruhig atmen. Ich bin im Frieden. Mit mir, mit ihm. Vollkommen erwartungsfrei.

Umkehrung 1: Ich sollte das doch endlich verstehen!

1. Ich habe es vorhin schon erwähnt. Er ist nicht hochsensibel. Ich schon. Ich habe daher vielerlei Vorteile. Ich spüre schon was mein Kind braucht, bevor es das überhaupt sagen muss. Ich kann meistens auch sofort erkennen wie dringend ein Bedürfnis ist. Und ich verstehe es auch eigener Erfahrung heraus. Für ihn ist das neu. Auch das ich hochsensibel bin wissen wir erst seit 2017. Was ich also schon mein ganzes Leben lang fühle, hat er vor drei Jahren zum ersten Mal gehört. Und (um bei dem obigen Beispiel zu bleiben) kann ein Blinder je verstehen was Farben sind? Ich sollte wirklich aufhören, ihm das auch noch zum Vorwurf zu machen.

2. Ich sollte auch sehen, dass er sich Mühe gibt. Er versucht es. All diese blöden Sätze, die oben in meinen Gedanken aufgetaucht sind, hat er noch nie gesagt. Weder zu mir – noch zu meinen Kindern. Auch nicht bevor er von der Hochsensibilität wusste. Ich habe mich damals (u.a.) in ihn verliebt, weil er als der erste Mensch in meinem Leben überhaupt nicht blöd kommentiert hat, wenn ich bei den Nachrichten angefangen habe zu weinen – sondern umgeschaltet hat und gesagt hat „Schau und tu dir das nicht an.“. Erst darauf hin bin ich überhaupt auf die Idee gekommen, dass ich das auch anders lösen kann. Das ich mich dem Leid auf der Welt nicht aussetzen muss. Und das war lange bevor ich wusste, warum ich so feinfühlig bin. Er hat auch meine Bedürfnisse geschaut bevor ich es getan habe. Warum also traue ich ihm nicht zu, dass er das auch bei den Kindern richtig macht? 3. Ich sollte auch verstehen, dass es nicht hilfreich ist, wenn ich ihn so anmotze. Für niemanden. Das Bedürfnis der Kinder wird dadurch auch nicht schneller gestillt. Meins auch nicht. Und ich treibe damit einen Keil zwischen uns den ich gar nicht will.

Umkehrung 2: Er sollte das nicht endlich verstehen!

1. Weil er es einfach nicht verstehen kann. Es ist gar nicht möglich. Ich werde auch nie verstehen wie es ist zu surfen – wenn ich es nicht mache und fühlen kann. 2. Vielleicht ist es gut wenn die Kinder möglichst früh verstehen, dass es Menschen gibt wie uns, die hochsensibel sind – und Menschen, die das nicht sind. Und das das so wertungsfrei ist, wie wenn jemand helle oder dunkle Haare hat. Es ist einfach eine Eigenschaft, für die man nichts kann und die man sich nicht ausgesucht hat. Und besser sie lernen es erstmal beim eigenen Papa, als erst in der Schule – und dann mit voller Wucht. Und sie verstehen das besser, wenn sie bemerken, dass Papa und Mama unterschiedlich reagieren. Wir müssen überhaupt nicht in allem gleich sein. Das ist ja eh totaler Quatsch und so ein altes Trugbild, das Eltern immer einer Meinung sein sollten. 3. Damit ich diese Welle der Emotionen in mir endlich mal rauslassen kann. Damit der brodelnde Vulkan endlich mal überkocht und sich danach beruhigt. Ehrlicherweise hat das zulassen der Gefühle und das worken nämlich richtig gut getan. Irgendwie heilsam.

Die nächsten Tage werde ich auf jeden Fall mal darauf achten, weniger Verständnis vorauszusetzen und schauen, wie die Kinder reagieren, wenn er ihre Bedürfnisse nicht gleich versteht und ich nicht direkt „übersetze“.

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Deine Nicole

Bild von Tú Anh auf Pixabay.